Kapitel 10 – Das Haus der Gaunts
Den Rest der Woche blieb Harry bei den Anweisungen des Halbblutprinzen, was Slughorn zum Schwärmen und mich zum Kochen brachte. Es war einfach unfair! Doch statt mich mit Harry zu streiten, ließ ich meine Energie in der Bibliothek aus. Seite um Seite durchblätterte ich alte Jahrbücher, doch niemand hatte etwas mit einem Halbblutprinzen zu tun oder wurde als Spitzname so genannt. In den 70ern stieß ich schließlich auf mir bekannte Namen. Jahr um Jahr entdeckte ich: James Potter, Lily Evans, Remus Lupin, Sirius Black, Peter Pettigrew und natürlich auch: Severus Snape. Es war ungewohnt, sie alle so jung zu sehen, aber bei niemanden war es seltsamer als bei Professor Snape. Es war schwer, ihn nicht als Severus zu sehen, und ich verfolgte seine Entwicklung gespannt. Zu meinem Erstaunen musste ich zugeben, dass ich ihn gerade in seinem letzten Schuljahr attraktiv fand. Die langen schwarzen Haare, die dunklen Augen, dieser Blick, der einen auch heute noch durchbohren konnte, all das machte etwas mit mir, dass ich gar nicht wahrhaben wollte.
Schließlich klappte ich das Jahrbuch laut zu und stellte es genervt zurück ins Regal. Das lenkte mich viel zu sehr von meiner eigentlichen Suche ab.
Einen Abend schaute ich mir heimlich Harrys Buch genauer an und erkannte neben den genialen Anmerkungen auch selbst ausgedachte Zauber, einige davon mittlerweile vom Ministerium verboten, weil sie zu schwarz waren. Das gab mir natürlich zu bedenken, doch Harry würde nicht auf mich hören, weil es so aussehen, als würde ich alles vom Halbblutprinzen verdammen…
Auch Harry entdeckte die Sprüche und zeigte sie Ron. „Schau, was er alles selbst erfunden hat!", sagte er mit leuchtenden Augen und konnte anscheinend nicht erkennen, wie gefährlich einige dieser Zauber waren.
„Oder sie selbst", ergänzte ich gereizt. „Es könnte auch ein Mädchen gewesen sein. Die Handschrift kommt mir eher wie die eines Mädchens vor als die eines Jungen." Und immer noch eigenartig bekannt.
Doch Harry und Ron beharrten darauf, dass es sich um einen Prinzen handelte, und dagegen fiel mir auch nichts Kluges ein.
Es dauerte ganze drei Tage, bis ich endlich auf die richtige Spur kam: Eileen Prince, Präsidentin des Kobelstein-Clubs. Ihre Augen und ihre Nase erinnerten mich sogleich an Snape, sodass ich alle Hochzeitsanzeigen des Tagespropheten durchforstete, die nach Eileens Abschluss herausgegeben worden waren, und endlich fand ich sie: Eileen Prince hatte den Muggel Tobias Snape geheiratet. Ein paar Jahre später fand ich dann auch die Geburtsanzeige von Severus Snape. Er ist 36 Jahre alt, errechnete mein Gehirn sofort, und ich war erstaunt, wie jung er doch eigentlich noch war. Hier war also des Rätsels Lösung: Severus Snape war der Halbblutprinz. Jetzt war ich nicht mehr erstaunt über die genialen Zaubertrankanmerkungen und leider auch nicht über die schwarzen Zauber, die er sich ausgedacht hatte. Wenn das die Schulräte erfahren würden, wäre er seinen Job sofort los, und selbst Dumbledore könnte nichts dagegen sagen. Natürlich war es nicht meine Absicht, Snape rauswerfen zu lassen, aber dieses Druckmittel brachte mir ganz neue Möglichkeiten, die ich nutzen wollte.
Und so stand ich Samstagabend vor Snapes Bürotür und klopfte an. Eigentlich hätte Harry nun sein Nachsitzen gehabt, aber Dumbledore brauchte ihn dringender, weswegen Snape eigentlich Zeit für mich und meinen Vorschlag haben sollte.
„Herein!", rief er von drinnen und klang erbost.
Ich trat jedoch unbeirrt ein und grüßte mit einem höflichen „Guten Abend, Professor Snape."
Er sah mich verwundert an. „Wollen Sie etwa Potters Nachsitzen übernehmen oder warum sind Sie hier?"
„Nein", erwiderte ich ruhig, obwohl mein Herz laut pochte, denn sein Büro war umgeben von seinem Geruch. „Ich möchte Ihnen eine Art Handel vorschlagen."
Er zog eine Augenbraue verächtlich hoch, aber anscheinend hatte ich seine Neugier geweckt, denn er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und ich setzte mich.
Dann atmete ich einmal tief durch, bevor ich knallhart begann. „Sie sind der Halbblutprinz."
Als die Farbe aus seinem Gesicht wich, war meine Annahme endgültig bestätigt. Seiner Stimme konnte man jedoch keinen Unmut anerkennen, als er fragte: „Was soll das sein?"
Ich legte den Kopf schief. „Sie haben solche Spielchen doch gar nicht nötig." Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade von mir gegeben hatte! Gryffindor-Mut hin oder her, aber das hier war selbstmörderisch! Aber ich machte ruhig weiter. „Ich habe Ihr altes Zaubertränke für Fortgeschrittene in die Finger bekommen und ein paar interessante Dinge gefunden. Natürlich allerlei Geniales, das die Tränke eindeutig zu verbessern scheint, aber auch den ein oder anderen schwarzen Fluch, was dem Ministerium und den Schulräten wohl gar nicht gefallen würde." Mein Herz hing mir im Hals – was tat ich hier eigentlich?! Ich drohte und erpresste den strengsten Lehrer der Schule! Gleich würde er mir Punkte abziehen und mir Nachsitzen für den Rest des Schuljahres aufhalsen und gleich mit mir zu Dumbledore gehen, damit ich der Schule verwiesen wurde…
Doch er blieb ruhig. „Sie haben doch sicherlich Beweise, bevor Sie mir etwas so Ungeheuerliches vorwerfen, oder?"
„Selbstverständlich", nickte ich. „Zum einen wäre da die Verbindung zu Ihren Eltern. Eileen Prince hat einen Muggel geheiratet, was Sie zu einem wortwörtlichen Halb-Blut-Prinzen macht."
„Woher wissen Sie von meinen Eltern?", fuhr er scharf dazwischen.
„Jahrbücher und Tagespropheten", antworte ich, bevor ich weiteraufzähle. „Zum anderen habe ich seit dem ersten Schuljahr das Rätsel, das Sie für die Bewachung des Steins der Weisen entwickelt haben, bei mir. Es ist dieselbe Schrift darauf wie in dem Buch des Halbblutprinzen." Diese Erkenntnis war mir plötzlich gekommen, nachdem ich die Bibliothek verlassen hatte, und da ich diesen besonderen Zettel, der mir meine Logikfähigkeiten attestierte, stets bei mir hatte, konnte ich meine Vermutung schnell im Mädchenschlafsaal überprüfen. Jetzt sah ich Snape verwundert an: „Sie haben zwei verschiedene Handschriften, Sir. Eine von früher, eine sehr schöne, wenn ich das sagen darf, und dann eine neue, alltägliche, die Sie für unsere Aufsätze benutzen. Warum?"
Snape starrte mich eine Weile an, versuchte vielleicht, mich und meine Absichten einzuschätzen. Statt auf meine Frage zu antworten, sagte er schließlich nur ergeben: „Was wollen Sie, Miss Granger?"
Jetzt war der Moment der Entscheidung gekommen und ganz eine Gryffindor zog ich meinen Plan durch, auch wenn ich seine Reaktion fürchtete. „Im Gegenzug für mein Schweigen, was ich sogar auf Harry und Ron ausweite, möchte ich eine ruhige Ecke Ihres Büros nutzen dürfen." Ich sah mich um zu der freien Ecke hinter der Tür, an der ein kleiner Tisch mit einem Stapel Bücher stand. „Der Platz dort sollte ausreichen."
„Warum würden Sie ausgerechnet das wollen?" Er schien ungläubig über meinen Vorschlag und wahrscheinlich schien er ihm zu wenig, denn ich hätte nun fast alles von ihm verlangen können.
„Wissen Sie, wenn allen bekannt ist, dass man die beste in der Schule, doch zumindest im Jahrgang ist, dann wollen alle etwas von einem. Es ist schwer für mich geworden, in Ruhe im Gemeinschaftsraum oder in der Bibliothek zu arbeiten. Ich hätte gerne einen Rückzugsraum, wohin sich selten ein Schüler verirrt und selbst dann, mich ungestört lässt." Und ich würde gerne mehr Zeit mit Ihnen verbringen, überlegte ich weiter in meinem Kopf. Ich wollte herausfinden, warum mein Amortentia nach ihm roch. Ob es nur eine Anziehung war – oder mehr… Dazu kam noch, dass ich vielleicht mehr über ihn herausfinden könnte, denn natürlich war ich immer noch schockiert, dass er Lily als Schlammblut bezeichnet hatte, aber ich wollte ihm auch immer noch helfen – wenn ich auch noch nicht wusste, wie.
Er schien mein Argument der Ruhe nachvollziehen zu können, denn er nickte. „Aber Sie lassen mich auch in Ruhe!"
„Natürlich." Auch wenn sich sicher das ein oder andere Gespräch ergeben würde.
„Und ich will Sie als meine Assistentin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste." Er grinste leicht und ich war erschrocken, wie leicht er mir das Ruder aus der Hand genommen hatte.
„Sir?", konnte ich nur verwundert nachhaken.
„Es gibt eine Handvoll Sprüche und Flüche, die man am besten zeigen sollte, damit sie wirklich verstanden werden. Ich kann sie schlecht an mir selbst ausprobieren, also brauche ich jemand anderes."
Ich machte entsetzt den Mund auf – ich würde doch nicht sein Versuchskaninchen werden! – als er schief lächelte.
„Sie wollen doch endlich ein Ohnegleichen in Verteidigung gegen die Dunklen Künste erreichen, oder nicht? Und wenn Sie an vorderster Front sind, bekommen Sie die wichtigsten Dinge sofort mit."
Wie ein stummer Fisch klappte ich meinen Mund wieder zu und überlegte einen Moment. „In Ordnung", sagte ich schließlich zu – er könnte gar keine schlimmen Flüche an mir auslassen, selbst wenn er es wollte, denn sonst würde er sicherlich rausgeworfen werden. „Aber dann möchte ich immer die Möglichkeit haben, Sie Fachliches zu fragen. Sowohl im Bezug auf Zaubertränke als auch Verteidigung gegen die Dunklen Künste."
Nun überlegte er kurz, bevor er nickte. „Aber übertreiben Sie es bitte nicht."
Ich konnte mir regelrecht seine Sorge, ich würde ihn mit Fragen bombardieren, vorstellen und es ärgerte mich, denn ich war nicht mehr die nervige Erstklässlerin von früher, die auf ihrem Stuhl herumrutschte und die Hand in die Luft streckte, wann immer sie die Antwort auf eine Frage wusste… „Sie werden schnell feststellen, dass man, wenn man im Ministerium gekämpft hat und mit mehr als nur einer sichtbaren Narbe über dem ganzen Oberkörper rauskommt, sich verändert."
Er sah mich an und ich war mir nicht sicher, aber er schien Mitleid zu empfinden, vielleicht sogar besorgt zu sein.
Weil ich nicht darüber nachdenken wollte, was das nur zu bedeuten haben könnte, stand ich abrupt auf und bot ihm meine Hand an. „Wir haben also einen Deal?"
Er stand ebenfalls auf und nahm meine Hand, die er einmal wortlos schüttelte.
Für einen Moment konnte ich nicht denken, denn seine Hand in meiner fühlte sich überwältigend an. Ich schluckte nervös und ließ sie lieber schnell wieder los, bevor ich noch etwas Unüberlegtes tun könnte. „Noch einen schönen Abend", murmelte ich und verließ rasch sein Büro. Ich hatte bekommen, was ich wollte, ohne viele Widerworte von ihm – vielleicht störte ihn meine Anwesenheit nicht so sehr, wie ich befürchtet hatte? – und obwohl ich froh sein sollte über mein Glück, war ein Teil von mir auch besorgt. Wo sollte das alles nur hinführen?
Ich war noch immer fest in Gedanken, als ich den Gemeinschaftsraum betrat.
„Wo ist dein Buch?", wollte Ron wissen, als ich mich neben ihn aufs Sofa geworfen hatte.
Ich schaute ihn nur verwundert an.
„Na, das Buch, das du aus der Bibliothek ausleihen wolltest?"
Ach ja. Diesen Grund hatte ich als Ausrede benutzt, um wegzugehen, denn eigentlich hatten wir zusammen auf Harrys Rückkehr warten wollen. „Das hatte sich schon jemand anderes ausgeliehen", log ich schnell und ohne, dass Ron es bemerkte. Stattdessen verwickelte er mich in ein erneutes Gespräch über das, was Dumbledore Harry wohl in diesen Einzelstunden beibringen würde. Aber so sehr ich mich auch versuchte, auf unsere möglichen Ideen zu konzentrieren, ich konnte meine Gedanken nicht von Snape losbekommen und wie viel Zeit ich nun mit ihm verbringen würde. Hoffentlich würde er sich halbwegs erträglich benehmen. Plötzlich kam mir der Gedanken, dass er vielleicht nur deshalb so schnell meinem Deal zugestimmt hatte, weil er mich wegekeln wollte… Ich hätte es zu einer Bedingung machen sollen, dass er sich mir gegenüber höflich verhalten musste! Aber nun war es zu spät, wir hatten uns die Hand gegeben. Und was für eine Hand das war…
Harry kam spät zurück und da wir mittlerweile den Gemeinschaftsraum für uns hatten, konnte er gleich erzählen, was er erlebt hatte. Und was er berichtete, war unglaublich!
Dumbledore zeigte ihm Erinnerungen von Voldemorts Vergangenheit. Heute hatte er Voldemorts Eltern und Großvater und Onkel gesehen. Das war viel spannender und auch wichtiger als alles, was wir uns vorgestellt hatten, denn je mehr du über deinen Fein weißt, desto besser kannst du seine Schwachstelle finden. Wie bei Snape… Ich kannte seine Kindheit, was mit seinen Eltern passiert war, wie er in der Schule gemobbt wurde, und natürlich die Geschichte über Schlammblut…

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